TEXTLANDSCHAFT      Worte

 

Federn im Haar

Der Adler kreiste über uns, die Hechte bissen auf Steine, die der Mann an einen Strick gebunden hatte, weil die Frau gesagt hatte, daß er erst wieder einen Fisch fangen darf, wenn der andere aufgegessen ist. Am Flußrand lagen Fossilien, Zeugen, daß das Kernland Kanadas Meeresgrund gewesen war. Ich hob eine Adlerfeder auf und schob sie ins verfitzte, gelb gefärbte Haar. Ich hatte als Kind Indianerbücher gelesen, später gesagt, „Die Texte haben mich geprägt", ich war in Fantasien auf der Seite derer gewesen, die schlecht bewaffnet waren, vertrieben, getötet wurden, nicht in Knechtschaft gingen. Wenn ich in den Geschichten sterben mußte, hatte ich geweint. Mein Vater sagte, daß ich als Squaw nichts zu sagen hätte, aber darüber erzählten die Bücher nichts, auch nichts über Millionen von Mücken und daß Indianer leidenschaftlich spielten.

Wir sahen Männer und Frauen gemeinsam kochen, Männer saßen am Steuer der Autos, Frauen auch. Wir schlugen um uns, rieben die Haut mit Gift ein, die Mücken landeten auf den Haaren und stachen in die Kopfhaut,´Basecaps oder Kaputzenshirts´, sie stachen beim Pinkeln in den Hintern. Indianergemeinden besaßen Casinos, Männer und Frauen spielten „zur Erholung" Bingo und kauften an der Bude auf dem Festivalplatz soviele Lose, daß mir schwindlig wurde - die Lose zeigten die Bildchen einarmiger Banditen, sie wurden in Blöcken verkauft, geöffnet, rasch durchgesehen, das Papier füllte Tonnen, die überquollen, die in Säcke geleert wurden. Jedes Los kostete einen Dollar. Eine Frau hatte in kurzer Zeit dreihundertfünfzig Dollar verspielt, eine gewann die Höchstsumme von fünfhundert Dollar, nahm den Bündel Geldscheine, reichte den ersten über die Theke... ein Mädchen fragte mich, wann ich was am Vortag getan hatte, ihre Mutter habe am Abend fünftausend Dollar im Bingospiel gewonnen, ich war so irritiert, daß ich nicht nachfragte, welche Funktion ich ihrer Meinung nach gehabt haben könnte.

Wir sahen Büffelherden, die Büffel lagen mit ihren Jungen so träge am Straßenrand, daß ich mir nicht vorstellen konnte, daß sie tosend über Präriefelder jagten. Um uns war Wald, keine Steppe. Die Indianer hatten asiatische Gesichter. Wir waren durch Nebelfladen Richtung Norden gefahren, rechts hatte an einem kleinen See ein Zeltlager gelegen, die Zelte aus Leinen hingen an einem äußeren Gerüst aus dünnen Stämmen, Hütten waren aus Spanplatten ohne Dach gebaut, so daß sich in ihnen keine Feuchtigkeit ansammeln konnte, gelbe und blaue Planen wurden drüber gespannt. Eine Bühne mit Tanzfläche, Sitztribünen, die Kindern als Klettergerüst diente, war aufgebaut. „Musikfestival", es gab keinen Programmzettel. Wir hatten im Radio, das nur in der Nähe von Orten zu empfangen war, einen Musiktitel gehört, der so schrägtönig gewesen war, daß wir gedacht hatten, ´Falls das indianische Gegenwartsmusik ist, interessiert sie uns´, die Kassetten in den Motelläden waren eingeschweißt, die Untertitel hatten keine Neugier geweckt, für die man Geld wie für ein Lotterielos hingibt.

Das Festival sollte um acht Uhr beginnen. Wir warteten vier Stunden, „Vielleicht beginnen sie nach Sonnenuntergang." Die Tanzfläche wurde so oft gekehrt und gewischt, daß wir vermuteten, es werde BreakDance geben. Niemand hatte eine Kofferheule an, niemand sang. Die Kinder waren lässig gekleidet. Sie hielten einander umschlungen, zärtlich oder kampelnd. Ihr Spielzeug waren Steine, die sie sich wie Bälle auf die Schuhspitzen warfen, und Büchsen, die sie zertraten oder mit einem Loch an der Seite versahen, als Spritzflaschen benutzten, sie malten mit Stöcken auf die Erde und mit angeleckten Fingern in den Dreck auf den Autos. Sie fuhren auf kleinen, schwergewichtigen Fahrrädern, hatten CD-Walkmans und Videokameras. Sie schleppten schwere Taschen, unter denen sie zusammenzubrechen drohten, oder Baumstammstücke, die ihnen unter den Armen wegrutschten, ein zweijähriger Junge versuchte, Holz mit der Axt zu zerhacken. Er trug Pampers. Jungen, Mädchen rauchten. Als Musik begann, war es Countrymusik. Die Musiker fast alle Bleichgesichter. Männer und Frauen tanzten in Hosen, Anoracks, Turnschuhen und Gummistiefeln. Sie füllten und leerten die Tanzflächen wie an- und abschwellende Wogen. Sie stampften so rasch, daß es ein Trippeln schien. Ab und zu bildeten sie einen großen Kreis und wechselten in kompliziert wirkenden Rhythmen Tanzpartner. Keiner hatte Papiertüten mit Flaschen in den Händen, niemand schien Alkohol zu trinken, niemand schwankte. Nebel war in den Bergen aufgestiegen, er zog über das Camp und drückte den Rauch der Feuer zur Erde. Die Atmosphäre war filmisch spannend, aber ich hatte keine Geschichte. Die Menschen um uns schienen ohne Neugier, sie grüßten freundlich, fragten fast nichts, es machte, daß ich keine Geschichten hörte. Die Verkehrssprache war Englisch, auch in den Zeitungen. Gebete wurden indianisch wiederholt, ich hörte „Amen" sagen. Wenn die Redner indianisch vom Blatt lasen, kam es stockend, als sei ihnen die eigene Sprache fremd. Die Kirche war eine Hütte mit Fliegengaze vor Fensterlöchern, einem Kreuz aus zwei Latten am Dach, zu dem eine Leiter führte. In die Latten des Kreuzes waren Nägel eingeschlagen, mit Draht ein Netz gespannt, das an ein Spinnennetz erinnerte. Der Sonntagsgottesdienst fand unter blauem Himmel statt. Die Worte des Priesters waren anrührend schlicht, ab und zu wischte sich eine Frau Tränen aus den Augen.

Der Festivalbesuch war kostenlos. Hauszelte, in denen Herde standen, wurden für hundert Dollar vermietet. Ich sah kupfern und silbern schimmernde Centstücke rumliegen, kein Kind bückte sich, aufgerissene Chiptüten lagen auf der Erde, kein Kind bückte sich. Kinder zogen Zehn- und Zwanzigdollarnoten aus den Hosentaschen.

Wir übersetzten ein Schild, das an einem Auto befestigt war, „Dieses Auto wurde für einen indianischen Geldherauspresser gebaut." Vielleicht meinte es anderes, aber die Indianer hatten Entschädigungsgelder gefordert und erhalten, sie fuhren neue, große Autos. Eine deutsche Auswanderin sagte: „Sie leben wie wir, nur reicher, ohne arbeiten zu müssen", sie fügte hinzu: „Es gibt aber auch keine Arbeit."

Feuerwehrmänner hätten Wälder in Brand gesteckt, um Arbeit zu haben, Geld verdienen zu können. Die Indianer arbeiteten - für sich. Sie jagten, stellten Fallen, fischten, trockneten Fische, gerbten Felle, fällten Holz, verfeuerten es, bauten Hütten, sammelten Beeren, buken Brot. Dollars schienen „Spielgeld." Ich mußte kichern - ich hatte Sorge gehabt, den Indianern Nahrungsmittel wegzuessen, wenn ich Pilze abschnitt, Blau- und Cranbeeren sammelte, aber ich hatte auf Fähren, in Läden, an Tankstellen, Straßen Indianer gesehen, die für andere arbeiteten. Ein Indianer hatte mich auf einem Parkplatz um Tee gebeten, in den Läden standen Kaffeemaschinen, an denen Vorbeigehende kostenlos Kaffee trinken konnten, aber keine Teeautomaten. Gab er sein Geld für Alkohol aus? „Ich wohne gegenüber einem Liquorladen. Sie legen Geld zusammen, kaufen Schnaps und Wein, trinken, schlafen ein, wenn einer aufwacht, schüttelt er die anderen wach, alles beginnt von vorn." ´Wie Videosequenzen.´

Die Indianer wurden „Erste Nation" genannt, sie verfügten im Süden über kleinere Reservate, der Norden gehörte ihnen fast ganz. Öl- und Minenkonzerne zahlten Nutzungsgebühren. Die Länder waren selbst verwaltet, sie hatten eine weitgehend eigene Gerichtsbarkeit und forderten das Recht auf ein eigenes Schulsystem. Häuptlinge hießen „Große Chefs." Problem von Volksentscheiden war auch hier, daß der, Entscheidungen treffen sollte, ausreichend informiert sein müßte. Im Straßenverkehr wurden keine Piktogramme verwendet, sondern Texttafeln, "Die kannur lesen, wer lesen kann." Bleichgesichtige Polizei fuhr mit kugelsicheren Westen und einem Lächeln im Gesicht in einem Wohnwagen den legendären, gut ausgebauten Dempsterhighway, hoch und runter. Sie jagten Verkehrssünder, Drogendealer und Schwarzbrenner.

Ein Indianer kämpfte gegen Mißbrauch von Indianersymbolen im Tourismusgeschäft, er habe Morddrohungen erhalten; während dem Indianerfestival waren keine Erinnerungen zu sehen. Nur ein Mann trug das ergraute Haar lang, gebündelt im Zopf, nur zwei alte Frauen trugen Röcke über den Hosen, bestickte Mocassins, die in Gummischlappen gesteckt waren. Rauchige Stimmen sangen, Fiedeln fiedelten, bis ihre Töne im Morgengrauen ins Hirn stachen, als hätten wir zu lange Töne von einer gesprungenen Schallplatte gehört.

Ich war in Whitehorse in einen Laden gegangen, als ich rausgekommen war, spielte der alte Indianer noch immer auf seinem Instrument, das einen Topf, einen Stab und eine gespannten Seite hatte. Der Parkplatz hatte sich gefüllt, seine Musik war kaum noch zu hören. Ich warf ihm Kleingeld in den Hut, er sagte „Excuse me", es trieb mir Schamröte ins Gesicht, ich verlor den Dollar, den ich als Pfandgeld aus dem Einkaufskorb gezogen hatte, hob ihn auf und eilte davon. So hatte ich die Indianer nicht in Erinnerung haben wollen, daß sie betteln und sich schämen müssen. Ich hatte mich als Kind die Tochter von Totanka Yotanka genannt.

Schweigen galt zwischen Indianern noch immer als Tugend. Ein Kind, das so klein war, daß es kaum sprechen konnte, stellte am zweiten Tag die erste Frage an mich: „Wie heißt du? Wohnst du in dem Bus? Wohin spaziert ihr?" Ein Mädchen fragte: „Warum wohnt ihr hier?" Ihr Tonfall wirkte hart, ein anderes Mädchen versuchte, es am Zopf fortzuziehn. „Was eßt ihr?" - „Dasselbe wie ihr." Wir hatten selbstgebackene Kekse aus Zucker, Mehl, Wasser, ich erklärte den Jungen, wie sie sie sich backen könnten. Die, die Fragen stellten, wurden nach und nach älter, ´vielleicht wären wir irgendwann integriert worden´, ´Nein.´ Wir waren Reisende, neugierig, nervös. Mischehen zwischen Weißen und Indianern waren selten geworden. Die Indianer schienen ihre gesetzlich verankerten Privilegien gegenüber den Weißen, zu denen Steuerfreiheit, kostenloser Zugang zu den Hochschulen des Landes, kostenlose gesundheitliche Betreuung... gehörten, zu genießen. Ein Indianer, der von einer Mitschuld der Indianer an den Greueln in der Vergangenheit in einem Zeitungsartikel gesprochen hatte, wurde von anderen Indianern bedroht: "Nicht die Geschichtsbücher sondern die Erinnerungen der Vorfahren erzählen die Wahrheit, die Toten werden aus den Gräbern auferstehen, es wird ein anderer Wind..." Das Wort „Versöhnung" in den Reden eurocanadischer Politiker sei ein „Unwort."

Im Polizeibericht der indianischen Zeitschrift „Windgeflüster": Indianerkinder des Forts zur Guten Hoffnung hatten eine East-Side- und eine West-Side-Gang gegründet und sich mit Messern abgestochen. Mich fröstelte. Eine Indianerin schenkte uns zum Abschied ein kleines Stückchen über dem Holzfeuer in einem Halbzelt geräucherten Fisch.

 

 


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