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Werther sagt Lotte

 

Werther sagt Lotte

Zwei Sofas schieben sich von rechts, eins von links auf die Bühne, vom Himmel fallen Puppen. Lotte aus Goethes "Werther" tanzt auf die Bühne. Sie setzt die Puppen zärtlich auf die Sofas.

Lotte: ...Jauchzlaut... Er wird gleich kommen.

Ich will nicht mehr ein bißchen übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen; ich will das Gegenwärtige genießen und das Vergangene soll mir vergangen sein. Es gäbe weniger Schmerzen unter den Menschen, wenn sie nicht mit soviel Einbildungskraft sich beschäftigten, sich die Erinnerungen des vergangenen übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von der Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.

Mein Vater ist ein Amtsmann. Ich schlafe in einer eigenen Kammer. Ab und zu gehe ich nachts in den Garten, die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maikäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können. Ich gestehe gern, ich weiß nichts übers Tanzen. Aber wenn ich etwas im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Tanz vortrommele, so ist alles wieder gut. Ich tanze und werde so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn ich sonst nichts dächte, nichts empfände; und in diesem Augenblick gewiß schwindet alles andere von mir.

Es reizte ihn, daß ich mich auf der Suche nach Raum für die Füße auf der Tanzfläche flüchtig bewegte, er griff derb nach mir. Er fragte: "Wer ist Albert?" Er sprach Albert so aus, als wolle er "albern" sagen. Ich sagte: "Albert ist ein braver Mann, dem ich so gut wie verlobt bin." Er faßte mich fester, tanzte zwischen die Paare. Es donnerte, blitzte, Gewitter fing an. Er hielt ein und starrte amüsiert in die Grimassen, in die mehrere Frauenzimmer ausbrachen. Die eine setzte sich in eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster, und hielt die Ohren zu. Eine andere kniete vor ihr nieder und verbarg den Kopf in der ersten Schoß. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und umfaßte ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. Die dreisten der Männer nutzten das aus, daß die Frauen Schutzbedürfnis markierten, die anderen spotteten. Ich schlug ihnen ein Spiel vor: ich ging im Kreis herum und ließ sie zählen, schneller, wer sich versprach, erhielt eine Ohrfeige. Ich gab ihm die derbste; er sah mich neugierig an. Er fragte: "Hatten Sie keine Furcht vor dem Gewitter?" Ich sagte: "Vielleicht war ich eine der Furchtsamsten." Mir liefen Tränen über die Backen. Ich murmelte: "Klopstock", das rührte ihn, seine Augen füllten sich mit Tränen.

Er hatte mich zum Vergnügen abholen sollen, ich stand zwischen den Kindern, verteilte Brot, er sah mich an,

ich sagte reizend: sie wollen von niemandem Brot geschnitten haben, als von mir.

Ich stieg in die Kutsche, wir redeten über Hüte. Die Dame gegenüber fragte mich nach einem Buch, das sie mir zugesteckt hatte. Ich mag Romane, aber der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es so zugeht wie um mich und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist. Der Roman war nicht so, ich sagte es scheu. Werther stimmte mir zu. Es machte ein Gefühl, als schöbe er sich in mich; seine Pupillen waren wie Brunnen, die Neugier wecken, man sieht hinein und will die Tiefe berühren. Andere sahen ihn nicht so. Die Augen der Menschen sind hübsch, wenn sie verliebt schauen, es erleichtert den Abschied, wenn sie es nicht mehr sind.

Daß das Leben des Menschen nur im Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte der Frauen, der meisten Männer, eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, in der man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann, so träumend, weiter in die Welt. Man sagt, ich sei heiter und sieht mich dankbar an. Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen. So ist mir"s gelegentlich, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte.

Ich breche nicht aus. Die Begier ist im Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen. Und ach! wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale. So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande und findet in seiner Hütte, an der Brust seines Gatten, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.

Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgang hinausgehe, in meinem Wahlheim, und dort im Garten mir Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädne und dazwischen in einem Buch lese; wenn ich in der kleinen Küche einen Topf wähle, Butter aussteche, Schoten ins Feuer stelle, zudecke und mich dazu setze, sie manchmal umzuschütteln: da fühle ich so lebhaft, wie Medea töten will, um Schmerz zu bereiten, in der Hoffnung, ihren loszuwerden.

Wenn ich Halleluja singe, ziehe ich die Töne aus dem Unterleib an der Wirbelsäule nach oben, die Organe beginnen zu vibrieren, die Töne kreiseln im Mund, ich fühle mich wie eine, die auffliegt, wenn ein hoher, klarer Ton meine Schädeldecke zu durchbohren, öffnen scheint.

Es ist so wenig, was man für das Gefühl, aus der mechanischen Rolle zu sein, braucht, er und ich fuhren in einer Kutsche vom Ball zurück, die anderen schliefen. Ach, wie mir das durch alle Adern lief, wenn meine Finger unversehens den seinigen berührten, wenn unsere Füße sich unter den Tischen begegneten! Ich zog zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich vorwärts - mir wird"s so schwindelig vor allen Sinnen. Er mißbrauchte nichts, das hat mich verliebt und hingebungsvoll gemacht. Ich lag wie von Sinnen im Bett, doch alle Begier schien in seiner Gegenwart zu schweigen, das heißt, er nahm sie nicht wahr. Ich sang ein wenig, und er wurde glücklich. Er lächelte mich an.

Was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen dir die buntesten Bilder an deine Wand! Und wenn nichts wäre als das, als vorübergehende Phantome, so macht"s doch immer unser Glück.

Er sprach gut von meinem Gang und der Herzlichkeit, und wenn er mich sehen konnte, stellte sich eine Musik in mir an, die Bewegungen weich zu machen, und ich war herzlicher zu jedem und sie antworteten nett, ich sah das gleichzeitig von außen, wie man gelegentlich von den Leichen erzählt, die aufgewacht sind und das erzählen.

Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger, und doch - Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine Konzentration ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, daß ich keinen Umriß packen kann; - ich vernachlässigte die Kinder. Ich bin nett zu ihnen, aber ich verstand nichts und schwatze nur lustig, ohne recht zu wissen, was, eine Zeitlang lachten sie mir, aber heute hat Marianne geweint.

Werther klagte auch, daß er von seinem gegenwärtigen Leben nichts zu anderen Menschen, weil er sich beständig wiederhole, nichts in Bilder, Gedichte bringen könnte, weil es als Kunst kitschig ist, und daß es sich in ihm staut.

Er scheint schreibsüchtig, ich hatte Angst, in seinem Gedächtnis zum Material zu werden. Er hat eine Art, in Briefen über Menschen zu reden, daß die Beschreibung mir gelegentlich lebendiger scheint als die Person selbst. Ich beruhigte mich, daß nur ein Teil der Ichs, die ich in mir regen spüre, nach außen dringen, und er mich nicht bloßstellen kann. Aber wenn ich tot bin, sind Texte da, ich nicht,

sie lügen.

Ich war für ihn Sauerteig, der sein Leben in Bewegung setzte, er für mich; ich schaue um mich, ich kann ihn nicht ersetzen. Der Reiz, der mich in tiefen Nächten munter hielt, ist hin, der mich des Morgens aus dem Schlafe weckte, ist weg. Ich habe Trost, die Kinder. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben -

Herr Gott hat gesagt, wir sollen sein wie sie -

sie, die unsresgleichen sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir wie Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben. Werther küßte Marie, meine kleine Schwester, sie weinte vor Angst, einen Bart zu bekommen, ich hatte ihr das erzählt, wie es mir meine Mutter erzählt hatte, um mich vor Männern scheu und vor der Welt anständig zu machen, ich schickte das Kind zum Wasser und sagte, daß es die Keime abwaschen kann.

Die Eifersucht, in der ich Marie belog, verletzte ihn nicht, er sagte sogar pathetisch, daß er sich manchmal neben mir fühle, wie neben einem Propheten, der die Schuld einer Nation weggeweiht hat. Ich hatte dann Angst, daß seine Empfindsamkeit in Wahnsinn umschlagen könnte. Aber er setzte sich und erzählte den Kindern brav Märchen, er hatte gelernt, sie in einem singenden Silbenfall an einem Schnürchen weg zu rezitieren. Wenn er etwas hinzugefügt, weggelassen hatte, waren sie enttäuscht gewesen. Daß er brav in die Rolle ging, machte mir Sorge, wie er sein würde, wenn er mich nicht mehr interessieren will. Er gab den Kindern vom Zucker und Geldmünzen. Ich konnte ungestört die Hausarbeit tun und kam nicht in Unruhe, daß wegen dem Besuch die Tageszeit vergeht und am Abend nichts geschafft ist. Die Kinder warten auf ihn wie ich.

Der Medikus kam aus der Stadt zu uns und fand ihn auf der Erde unter ihnen, wie einige auf ihm herumkrabbelten, andere ihn neckten, und wie er sie kitzelte und ein großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Werther aber ließ sich in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie zerschlagen hatten. Der Medikus ging darauf in der Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kinder wären schon ungezogen genug, der Gast verderbe sie nun völlig.

Mein Vater sagte: "Werther weiß, daß der Weg zur Frau über die Kinder führt."

Die Frau sei aus der Rippe des Mannes, er brauche sie wie einen hölzernen Krückstock; das sind Fantasien, eitler leben zu können. Einer sagte, daß wir durch Inzucht dumm sind, weil nur die dummen, anpassungsfähigen Frauen geheiratet worden wären. Ein anderer, daß sie nicht dümmer als Männer sind, doch sie müßten unterdrückt bleiben, weil Unterdrückte empfindsamer sind, mehr wahrnehmen, das Wahrgenommene sollen die Frauen den Männern sagen. Er hatte das von Rosseau. Ich möchte dann schießen.

...Kicherandeutung...

Ich liebe an Werther mich selbst. Aber die Welt ist so, daß ich nicht ohne Höhle sein will. Albert sagt, daß er mich liebt, weil ich bin wie ich bin, Werther, daß er mich liebt, weil ich ihn glücklich mache. In Gegenwart von Albert ist er so albern, daß mir der Respekt verginge, wenn ich keine Erinnerungen hätte, und das ist fürchterlich. Ich will weder die Kinder verlassen, mit ihm weggehen, noch die Gefühle zu ihm zerstören, die meine Kräfte verzehren. Ich fühle mich wie in einer schleichenden Krankheit, aber es treibt mich nicht, um sie loswerden zu können, mir den Dolch ins Herz zu stoßen. Selbstmord ist keine großartige Handlung. Es ist leichter zu sterben, als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen. Werther aber verglich den,

der sich gänzlich abtötet, mit einem Volk, das unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt, endlich aufgärt und seine Ketten zerreißt, und mit dem, der über dem Schrecken, daß Feuer sein Haus ergriffen hat, alle Kräfte angespannt fühlt und mit Leichtigkeit Lasten wegträgt, die er bei ruhigem Sinne kaum bewegen kann und mit dem, der in der Wut der Beleidigung es mit Sechsen aufnimmt.

Ich stand auf Alberts Seite und fand es albern. Aber Werther hat Recht, daß das psychische Leiden nicht anders wie ein körperliches wirkt und man mit beidem zu Tode kommen kann. Wenn die Sehnsucht stark war, in das Ende vom Lebenstext zu kommen, verschob ich den Schnitt in den Arm um drei Tage, ich habe in der folgenden Zeit etwas gesehn, was meine Neugier weckte. Man ist am Ende unendlich lange tot. Als ich gegrübelt und keine Angst mehr vor dem Tod gefühlt hatte, dachte ich, ich würde alle Freiheit der Welt haben, aber man ist zynisch, lebendig tot, oder im Geschirr der Empfindungen.

Es gibt Eindrücke, Ideen, die sich im Menschen festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinne beraubt und ihn zugrunde richtet. Ich habe das Singen, Tanzen, Werther das Schreiben, Zeichnen, die Ansammlung von Unruhe abfließen zu lassen.

Werther störte, daß Albert im Gefühl gleichmäßig scheint, er erzählte ihm von dem Mädchen, das vor Monaten im Fluß trieb, das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen, wöchentlich bestimmter Arbeit herangewachsen war, das keine Aussicht von Vergnügen kannte, als sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften Putz mit ihresgleichen um die Stadt spazierenzugehen, vielleicht alle hohen Feste einmal zu tanzen, und mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils manche Stunde über den Anlaß eines Gezänkes, einer üblen Nachrede mit einer Nachbarin zu verplaudern - bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den scheinbar Einzigen. Sie will die seinige werden. Wiederholtes Versprechen, das ihr die Gewißheit aller Hoffnungen versiegelt, kühne Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, sie schwebt in einem dumpfen Bewußtsein, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt, sie streckt ihre Arme aus - und

ihr Geliebter verläßt sie. Mich schauderte. Albert wollte ihn nicht verstehen, Werther habe von einem einfachen Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch von Verstande, der nicht so eingeschränkt sei, der mehr Verhältnisse übersehe, zu entschuldigen sein möchte, könne er nicht begreifen. Ich will mich und ihn nicht testen. Werther warf sich ins andere Extrem und sagte: der Mensch sei Mensch, und das bißchen Verstand das einer haben mag, komme wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüte und die Grenzen der Menschheit einen drängen. Er und ich hatten geredet, daß wir uns auch als Tote erkennen würden; es machte mir Angst, daß er mich und sich völlig zerstören könnte, weil er mich bei der Rede ansah.

Albert und er sind verändert, wenn sie zusammen sind. Albert küßt mich in seiner Gegenwart nicht. Ich könnte mit beiden nicht leben. Nur als Freund, Mann. Ich will das nicht sein.

Mutter hat mir Albert zugetan. Es ist alles gefügt, und ich kann nicht weggehen, ich bin wie eine Wand in einem Haus.

Wenn ich neben Albert so hingehe, pflücke ich Blumen am Wege, füge sie sehr sorgfältig in einen Strauß und - werfe sie in den vorüberfließenden Strom und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen.

Manchmal muß ich fort, muß hinaus! und schweife dann weit im Felde umher; einen jähen Berg zu klettern, ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, - die mich verletzen. Da wird mir"s besser. Was wenn Albert stürbe? Die Kinder? Vater?

Ich will diese Fantasien nicht. Ist nicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustandes eine innere unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird? Ich war am Ort, wo ich als Kind bei meiner Urgroßmutter gewesen war, alles, was mir vertraut war, entzückte mich, das Veränderte sah ich unsicher, fremd, wütend an. Ich gehe gern zwischen die Menschen, Fremden und bin doch froh, wenn ich nach Hause, über die Treppe, in mein Zimmer gekommen bin.

Werther behauptet, Albert würde mich vernachlässigen, wenn er zu Geschäften unterwegs ist, aber mir gefällt das Kommen und der Abschied, und daß ich manchmal allein sein kann.

Werther behauptete, er beneide mich, daß ich im Augenblick leben kann. Ich sagte ihm, daß er sich in den Garten setzen solle, nichts denken, nur hinsehen, hören. Ich habe gelernt, etwas um mich zu suchen, wahrzunehmen, das mich heiter stimmen kann. Heute malte ich mir auf gelbes Papier eine nach unten gebogene Linie, drehte sie um, sie sieht aus, wie ein lachender Mund.

Lotte trinkt Schnaps.

Lotte: Ich möchte, daß man allgemein weiß, daß ich innen anders als nach außen hin war und daß das vermutlich normal und keine Hexe in Frauen ist. Ich habe immer die Angst, wenn ich auffallend war. Ein fremdes Kind sagte: 'Hexe.' Ich sah zu Hause in den Spiegel, fragte die Kinder, ob etwas Gruseliges an mir sei, sie nickten, erzählten, ich würde den kleinen Finger der linken Hand ungewöhnlich abspreizen, wenn ich eine Tasse hielte. Ich schrie sie an. Tanzte wochenlang nicht.

Die Frauen und Männer sind untereinander verschieden wie Mann und Frau. Ich traf Männer von gleicher Klugheit, die einen wurden Forscher zwischen Apparaturen, die anderen leben wie Tiere in einer Waldhütte, und jeder von ihnen hat eine Philosophie, daß das das richtige Leben ist.

Was ist meins? Ein Kanarienvogel flog von dem Spiegel mir auf die Schulter. Ich lockte ihn auf die Hand, küßte ihn auf den Schnabel, reichte ihn Werther, der nahm ihm den Kuß ab.

- Kußgeräusch-

Er sagte, sein Kuß, sei nicht ganz ohne Begierde, er suche Nahrung und kehre unbefriedigt von der leeren Liebkosung zurück. Ich legte Brosamen auf meine Lippen, der Vogel kam, Werther kehrte das Gesicht weg, ich solle seine Einbildungskraft nicht wecken.

Er erzählte mir von dem Mann, der eine Frau, die er so liebte, daß er weder essen, noch schlafen habe können, er sei als wie von einem bösen Geist verfolgt gewesen, bis er eines Tages, als er sie in der oberen Kammer gewußt, ihr nachgegangen, ja vielmehr wie ihr nachgezogen worden sei; da sie seinen Bitten kein Gehör gegeben, habe er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen, der Bruder sei hinzugekommen, der Knecht sei aus dem Haus gejagt worden.

"Nimm mich!" Sagte ich, lautlos, weil meine Fantasie, die Kinder, Albert, meinen Vater entsetzt sah. Mir ist Werthers Blick tief ins Herz gegangen. Voll Ausdruck des innigsten Anteils, des süßesten Mitleidens. Warum durfte ich mich nicht zu seinen Füßen werfen? Warum durfte ich nicht an seinem Hals mit tausend Küssen antworten? Ich nahm Zuflucht zum Klavier und hauchte mit leiser Stimme. Es zog ihn an, er küßte mich, trat zurück, ging. Er merkte nicht, daß er ein Gift bereitete, das ihn und mich in der Gesellschaft zugrunde richten wird. Ich will keine Religion zum Trost. Ich will, daß Gott mich mit allen, die ich bei mir haben will, leben läßt.

Vater sagte, daß Werther sich mich auserkoren habe, weil ich durch die Kinder gebunden und deshalb vernünftig sei, so daß er keine Angst haben müsse, in eine ernsthafte Liebschaft zu kommen. Ich bin verlobt. Gewalt ist das einzige, wie er mich nehmen könnte, ohne daß ich mich wie eine Hure fühlen müßte. Ich müßte ihn abweisen, Haß zeigen.

Warum kann man nicht glücklich sein, ohne andere Menschen zu verletzen? Werther bedrohte mich andererseits mit Erzählungen, er habe einen Mann getroffen, der im Schnee Blumen gesucht habe, für eine Frau, die Juwelen und eine Krone trage, sich über Blüten freue. Der Mann habe erzählt, daß er bei diesem Weibe glücklich gewesen sei, die Mutter von ihm habe gesagt: "Das war, als er außer sich im Tollhause gewesen war."

Werther behauptet nun, man müsse den Verstand verlieren, glücklich sein zu können und übte sich im Brabbeln. In dem einen Satz, der verständlich war, behauptete er, der armselige Mann sei Schreiber bei meinem Vater gewesen, er habe mich geliebt, ich hätte ihn nicht beachtet, es habe ihm den Verstand geraubt. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Aber Albert sagte, er habe in der Tür gestanden, Werther habe das wirklich gesagt.

Werther nahm die Pistolen von Albert, sie sind ungeladen, seitdem Albert erlebt hatte, daß ein Gewehr beim Rumtollen einem Mädchen den Daumen abgeschossen hatte. Er hatte ärger davon. Ich bin wegen der Kinder froh und war es, als Werther sich den Lauf an den Kopf hielt, "Zum Spaß", sagte er. Albert sagte: "Pfui!" Wie zu einem Hund, der an fremdem Auswurf schnuppert. Ich konnte ihn nicht zurechtweisen. Werther tat es und sagte, daß man die Ursachen und Zusammenhänge wissen muß, wenn man nicht albern im Urteil sein will,

Diebstahl sei Laster, aber was, wenn einer stehle, sich und die anderen vom Hungertode zu erretten, wenn ein Mädchen sich in einer glückstaumeligen Stunde in den Freuden der Liebe verliere, wenn ein Ehemann verzweifelt über die Untreue seiner Frau, zuschlage, sogar die Gesetze, diese kaltblütigen Pedanten, würden Nachsicht zeigen, wenn Not, Leidenschaft, Trunkenheit, Wahnsinn war. Aber im gemeinen Leben sei es unerträglich, fast einem jeden bei einer halbwegs freien, edlen, unerwarteten Tat Nachrufen zu hören: der Mensch ist trunken. Der ist närrisch! Ich sah offenen Auges Blut an den Wänden eines Schweinestalls, "Eine Kugel in den Kopf, ein Messer ins Blutgefäß ist nicht edel."

Werther scheute sich nicht, zu sagen, daß er, wenn er tot sei, meine Mutter aufsuchen, sich bei ihr beklagen wolle, er sah mich an, wie jemand, der ihn verraten hat.

Werther zeigte Verzweiflung und Hoffnungen nahe dem Unsinn, einige entschuldigten es, weil er sich Künstler nennt und ein Mann ist, das heißt in einer Tradition. Andere entschuldigen es nicht. "Sie wissen, die Gesellschaft ist unzufrieden mit Ihnen." - "Ich wollte nicht bleiben", sagte er. Die einen waren schadenfroh, die anderen sahen ihm bedauernd nach. Er bedrohte mich wiederum mit Erzählungen, daß der Knecht,

der aus dem Haus geworfen war, den Knecht, den die Herrin sich als nächsten genommen hat, erschlagen hat. Werther habe den Amtsmann angefleht, dem Mörder die Flucht zu ermöglichen, Albert sagte: "Will er einen Freischein, daß er mich erschlagen kann?" Werther habe vor den anderen geweint. Er kam zu mir und sagte: "Ich habe mir immer wieder gesagt, daß Albert ein braver Mann ist und dir gut tut. Ich kann nicht gerecht sein."

Werther hat Angst, als Zeuge gegen den Knecht geladen zu werden, er dürfte nicht lügen und könnte nicht die Wahrheit gegen den Unglücklichen sagen, er sagte, er müßte fliehen.

Ich reichte Werther die Gesänge Ossians, ihn abseits von mir zu binden, es war ein verführerischer Pathos drin, weil er laut las und betroffen,

"Sieh, der Mond erscheint, die Flut glänzt im Tale, die Felsen stehen grau den Hügel hinauf; aber ich sah ihn nicht auf der Höhe, seine Hunde verkündigen nicht seine Ankunft. Hier muß ich allein sitzen."

Ich mußte weinen. Er sah es und hatte den Vorwand, mich zu trösten. Ich wandt mich aus seinen warmen, festen Armen. Ich bat ihn, weiterzulesen und sagte dann, daß es das letzte Mal sei, daß er mich gesehen haben kann. Er sah mich bestürzt, entsetzt an. "Du bist wie ein Vampir, der mir die Kraft raubt. Ich glaube, es ist die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die mich so reizvoll für Sie macht." Er behauptete, daß sei Alberts Einwand. Aber Albert ist bereit, mich mit anderen hinzunehmen, Werther nicht. Er scheute sich nicht, mich sein eigen zu nennen.

Albert hatte Nützliches zu tun, ich hatte mich um die Kinder zu kümmern, Werther die Langeweile, sich in seine Gefühle zu steigern. Wir hätten ihn in Arbeiten zwingen müssen. Er hatte geglaubt, daß die, die mit all ihrer Schwachheit und Mühseligkeit nur gerade fortarbeiten, gar oft erleben, daß es die andern mit Schlendern und Lavieren weiter bringen. Das hatte er für sich erhofft. Ich schickte ihm Blumen. Albert war verbittert geworden, er wollte über ihn nicht mehr reden. Ich bat Werther, bis Weihnachten nicht zu kommen. Es war kein Gespräch mehr zwischen mir und ihm als über uns. Er schickte Tage später einen Burschen, bat um die Pistolen von Albert, er tat es nicht mündlich, sondern mittels eines Zettels, Albert hieß mich das Gewehr putzen. Ich weiß nicht, warum ich es tat. Ein Nachbar sah den Blitz von Pulver und hörte den Schuß.

Werther hatte sich in den Kopf, nicht ins Herz oder den Bauch geschossen. Im Kopf ist der Feind, wenn ich harmonisch in der Welt leben will. Das Gehirn trat zwischen den Knochen heraus, er lebte noch. Albert nahm die Pistolen vom Fußboden und sagte: "Er kann nicht einmal das." Ein Medikus ließ ihm zum überfluß eine Ader im Arm, das Blut lief, er holte noch immer Atem. Ich fiel in Ohnmacht.

Als ich erwachte, sah ich am Tisch, daß er Rotwein getrunken hatte, und ein Theaterstück, in dem die Tochter den Vater bittet, sie zu töten, damit sie nicht verführt werden kann, einem Adeligen Hure zu werden, lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Ich habe Werther gehaßt, aber auch Mitleid gehabt und mich und Albert gehaßt.

Wenn man das Leben nicht liebt, keine Angst vor dem Sterben hat, könnte man Großes leisten. Albert hatte ihm geraten, Feuerwehrmann zu werden oder einer, der Verbrecher jagt. Werther fühlte sich verhöhnt.

Er bat meinen Vater in einem Zettelchen, seine Leiche zu schützen, es zeigte ihn kleinlich. Er wollte in seinen Kleidern begraben werden, man sollte seine Taschen nicht leeren.

Es war die blaßrote Schleife drin, die ich trug, als er mich das erste Mal sah.

Albert sagte, er habe gedacht, daß ich Werther nachsterben will.

Werther lag im blauen Frack, ledergelber Weste und Unterkleidern, er trug Stiefel mit braunen Stulpen. Sein Gesicht war nicht mehr, aber ich habe an der Hand gesehen, daß er es nicht gewesen sein kann, es fehlte ein Fleck.

Ich weiß nicht, ob Werther gemordet hat.

Ich hätte ihn gern mit einer meiner Freundinnen verheiratet, ihn in meiner Nähe behalten zu können, er interessierte sich nicht für sie; es gab keine, der ich ihn gegönnt hätte, nicht wie er war, sondern wie ich ihn anfänglich erlebt hatte, "er könnte wieder so werden".

Ich vermute, er ist nach Amerika gegangen, auch wenn die Briefe, die er schrieb, hinterließ, Zweifeln machen. Er nannte sich Schriftsteller, er hätte über seinen Tod nicht schreiben können, das spricht dafür, daß er lebt. Meine Fantasie malt das Leben mit ihm schrecklich, weil sie die Sehnsucht in mir nicht will, ihm nachzugehn.

Ich habe Texte, Bücher, ich hoffe, sie helfen meiner Fantasie, zu wandern über die Heide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Mütter im dämmernden Licht des Mondes hinführt. Ich bastelte mit den Kindern Drachen, sie stiegen, die Vögel umkreisten sie, ich wünschte, daß sie gegen sie kämpfen.

Wo ist Werther? Das Gefühl hört nicht auf den Verstand, ich kletterte gestern in ein Bachbett, sah nach unten, statt mich festzuklammern, gingen meine Hände, Beine in den Totstellreflex, ich kniff mich und redete auf mich ein, es half nichts, nur ein wunderlich aussehender Käfer konnte Angst ablenken, die mich fallenlassen wollte. Ich würde rasend werden, wenn er mich vergessen könnte. Er nannte mich Engel, das ist ein schönes Wort.

Das ist mein Mann.

 

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